Candide

Oper von Leonard Bernstein

Regie: Thomas Münstermann
Dirigent: Hermann Bäumer

PREMIERE: 25. Januar 2003

 

Heaven als Voltaire

 

bei den Probenarbeiten mit dem Chor

 

Philosophie statt Schulkindereien


Von Ralf Döring

Heaven nimmt das Publikum an die Hand. Jener Heaven, der als Kopf der Osnabrücker Band „Die Angefahrenen Schulkinder“ konsequent die tiefliegendsten Grenzen des schlechten Geschmacks unterläuft. Doch nach Jahren des Fäkal-Flachsinns ist für ihn die Zeit des philosophischen Tiefsinns angebrochen: Als Voltaire(!) steht Heaven auf der Bühne des Osnabrücker Stadttheaters und führt das Publikum durch Leonard Bernsteins „Candide“. Operndirektor Thomas Münstermann hatte die Idee, das Ober-Schulkind auf die Bühne des arrivierten Subventionsbetriebs zu holen: Als Erzähler Voltaire, als Schönwelt-Philosoph Pangloss, als Diener und Viertelspanier Cacambo und als pessimistisch verbitterter Martin. Und das höchst überzeugend.
 
Zottelmähne, Charakterfurchen im Gesicht und expressive Mimik machen ihn zum gefallenen Philosophen-Engel schlechthin. Er kehrt den Zyniker heraus, ekelt als Syphillis-Gezeichneter herum, spuckt den Frust über die Welt heraus. Doch nirgends überzieht er seine Rolle, son-dern ordnet seine anarchistischen Schulkindereien auf hohem Niveau und mit raumgreifender Präsenz Münstermanns Bühnenkonzept unter.


Der projiziert zur Ouvertüre mit Aphorismen aus Voltaires Romanvorlage zu Candide, von Leibnitz und Pope auf einen großen Kubus und spannt da-mit das philosophische Koordi-natennetz, in dem sich das Stück abspielt. Bühnenbildner Harald Stieger überzieht die Bühne dazu mit einem tatsächlichen Koordinatennetz aus grünen Lichtstreifen. Der Kubus öffnet sich, und heraus rollt eine riesenhafte Kugel – Weltenkugel, Golf- und Fußball in einem. Und um den vollendeten Formenkanon zu komplettieren, verwandelt sich der Kubus in ein gleichseitiges Dreieck. So einfach, so wohlgeordnet ist die Welt im westfälischen Schloss Thunder-Ten-Tronck, in der Candide lebt.


Von hier schickt ihn Voltaire alias Heaven durch die „Beste aller Welten“, und Münstermann macht daraus eine Reise durch Raum und Zeit: von Westfalen bis ins südamerikanische El Dorado, vom Spätba-rock bis in die Zeit heutiger Militärdiktaturen. Candide lernt dabei die gesammelten menschlichen Grausamkeiten kennen: Kriegsbarbarei, Vergewaltigung, Lug und Trug. Stück für Stück führt Münstermann vor, dass die These von der Besten aller Welten auch den Umkehr-schluss beinhaltet. Joan Ribalta gibt dem Candide die richtige Dosis bübisch-weicher Naivität mit, zu der sogar passt, dass der lyrische Tenor gelegentlich Mühe hat, sich gegen das Orchester zu behaupten.


Voltaires spitze Ironie und Bernsteins Musik sorgen dafür, dass das Unternehmen nicht zum trockenen, verkopften Philosophie-Seminar verkommt. Bernstein schüttelt Belcanto, Jazz- und Latino-Elemente, einen Schuss musikalische Mo-derne und eine kräftige Dosis Spätromantik kräftig durcheinander und schafft einen aufrei-zenden, aufputschenden Mix. Da wird aus dem Autodafé ein quirliges Fest für den Chor, den Marco Zeiser Celesti so gut vorbereitet hat, dass auch Freiräume für gelungene Choreographien bleiben.


Auch mit den Sängern hat Münstermann intensiv gearbeitet: blühende Aktion statt schalem Rampensingen ist die an-genehme Folge. Vor allem So-phie Marilley brilliert in der Rol-le der Candide-Geliebten Kuni-gunde mit herrlichen Koloraturen und glasklaren Spitzentönen – die sie durch lockeres Jonglieren untermalt. Im Graben liefert Till Drömann routinierte und saubere Arbeit: Er führt das Osnabrücker Symphonieorchester durch die rhythmischen Kapriolen Bernsteins, hält Graben und Bühne ordentlich zusammen und sorgt in aller Regel auch für den nötigen Drive.


Auf seiner langen Reise begegnet Candide einer ganzen Reihe exzentrischer Gestalten: eine Alten Lady, der das halbe Hinterteil fehlt (Nadine Weismann), Diktatoren und Kleinkriminellen in Person von Ricardo Tamura, Christoph Nagler und Ralph Ertel. Und er trifft ein paar Todgeglaubte: Kunigunde, deren Bruder Maximillian (Rüdiger Nikodem Lasa), die Dienerin Paquette (Iris Marie Kotzian) und seinen verehrten Philosophen Pangloss - Heaven. Der kann zwar nicht mit stimmlichem Wohlklang dienen. Aber dafür mit verblüffender rhythmischer Präzision in Gesang und Darstellung.


Die Reise endet in der heutigen Zeit, irgendwo auf einem armseligen Bauernhof. Kunigunde ist alt, grau und verhärmt geworden. Hart leuchtet das Bühnenlicht die noch härtere Realität aus. Aber immerhin: Candide macht das Beste daraus.

 

 

 

"unsere Geschichte beginnt in Westfalen, einem abgelegenen und rückständigen Land, dessen Bewohner eine unverständliche Sprache sprechen und das ganze Jahr über nur Schweinefleisch essen." (Voltaire)

 

Die Beste aller mögliche Welten.

Heaven, Rüdiger Nikodem Lasa, Sophie Marilley, Joan Ribalta und Iris Marie Kotzian beim Unterricht.

 

Heaven als Dr. Pangloss

 

Sophie Marilley und Heaven

 

Iris Marie Kotzian und Heaven

 

...erwischt...

 

Joan Ribalta als Candide und Heaven als syphilliszerfressener Dr. Pangloss.

 

 

 

 

 

 

 

Dr. Pangloss "Autodafe"

 

 

Keine Chance zu entkommen...

 

 

 

Der aufgebrachte Mob foltert...

 

...und hängt Dr. Pangloss beim Autodafe.

 

...dann ist er tot und singt nicht mehr...

 

Die jungen Helden machen sich auf in die neue Welt.

Rüdiger Nikodem Lasa, Joan Ribalta, Iris Marie Kotzian, Nadine Weissmann und Heaven

 

 

 

Die Reisenden auf dem Weg.

 

Joan Ribalta, Heaven, Sophie Marilley und Christoph Nagler

 

Heaven als Martin "Absurd"

 

 

Ricardo Tamura, Heaven, Joan Ribalta und der Chor der Städtischen Bühnen.

 

Candide und Cacambo auf der Flucht durch den südamerikanischen Dschungel.

 

Heaven als Cacambo, der treue Diener Candides.

 

Heaven als Voltaire

 

direkter link auf die Theaterseite mit weiteren Infos und Fotos hier

http://www8.txnet.de/theater_osnabrueck/stuecke/musiktheater/07m.shtml